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„Schleichender Prozess“

Sie wollen immer mehr, immer weiter, immer höher – Burn-out ist schon längst keine Managerkrankheit mehr. Aber ist Burn-out eine Form von Depression?

TAGESZEITUNG Online: Herr Stadtmüller, viele Menschen fühlen sich gestresst, getrieben, leben in Zeitnot. Ist Burn-out eine logische Folge dieser gesellschaftlichen Entwicklung?

Godehard Stadtmüller: Zum Teil. Die gesellschaftliche Entwicklung ist eine formale Geschichte, die man – wenn man es schafft – objektiv betrachten kann. Der andere Punkt ist aber immer: Wie wird etwas erlebt? Wie wird erlebt, in welcher Situation jemand gerade ist? Ein kantiges Beispiel: Viele der ehemaligen Vietnam-Soldaten haben sich erst Jahre nach dem Krieg umgebracht, wo sie eigentlich keiner objektiven Bedrohung mehr ausgesetzt waren. Warum? Weil sie in der amerikanischen Gesellschaft plötzlich nicht mehr als Heroen sondern zum Teil als Kriegsverbrecher gesehen wurden.

Von Burn-out spricht man erst seit einigen Jahren. Handelt es sich um eine neue Krankheit?

Das Stichwort Krankheit ist sehr wichtig, da eine Krankheit im Allgemeinen ja keine Längsschnittbeschreibung eines Zustandes ist, sondern eine Querschnittsbeschreibung. An einem bestimmten Moment zeigt ein Mensch eine bestimmte Symptomatik und diese können wir dann einer Krankheit zuordnen.

Beim Burn-out geht es aber nicht primär um eine Querschnittsbeschreibung sondern um eine Prozessbeschreibung. Das zeigt bereits das Wort: Burn-out bedeutet ausbrennen und nicht ausgebrannt sein. Dieser Ausbrennungs-Effekt kann ganz leise beginnen und dann bis zum Suizid führen. Ich glaube nicht, dass Burn-out eine neue Krankheit ist, aber dass sie durch einige Faktoren der letzten 40 Jahre verstärkt wird. Burn-out ist sicher kein Modelabel sondern die Erkenntnis eines Prozesses, den es wahrscheinlich schon lange gibt.

Welche Faktoren meinen Sie?

Die Bindung an gesellschaftliche Standards ist nicht mehr so stark. Dadurch entstehen zwar mehr Freiheiten, aber auch weniger Sicherheiten. Und der Mensch braucht gewisse Sicherheiten, Rituale. Heute haben sich Rollenstandards, das Leben in der Familie, Schulsysteme usw. im Vergleich zu vor 20 Jahren deutlich verändert. Viele Menschen freuen sich über diesen vielen neuen Freiheiten, aber einige werden dadurch auch abgehängt und verlieren sich in dieser Welt. Wenn dann die „Perfektheit“ einer Leistung, aufgrund des Wunsches nach mehr Sicherheit, an das Selbstwertgefühl angebunden wird, kann das zu einem vernichtenden Problem werden.

Wie un­ter­schei­den sich Bur­n-out und De­pres­sion? Ist Burn-out eine Form der Depression?

Depression ist im Allgemeinen die Frage nach einer Krankheit und damit stehen die Frage nach den Ursachen und die Querschnittsbeschreibung im Vordergrund. Burn-out ist hingegen eine Prozessbeschreibung und daher wird man zu Beginn dieses Prozesses sicher nicht sagen, dass jemand depressiv ist. Es kann aber sein, dass sich dieser Prozess weiterentwickelt und man ab einem bestimmten Punkt sagt, dass diese Person nicht nur an einem Burn-out leidet sondern auch depressiv ist.

Depressionen sind ein Thema, über das man als Betroffener nicht gerne spricht. Wie tabu ist es über Burn-out zu sprechen?

Die Tabuisierung von Depressionen hängt sehr stark von den verschiedenen Regionen und Kulturen ab. Über Burn-out zu sprechen ist hingegen weit weniger tabu. Ich glaube, dass das Thema Depression aufgrund der hohen Suizidzahlen einfach noch stärker tabuisiert wird, weil wir uns diesem Thema nicht annähern möchten. Das ist aber schlecht, weil der Betroffene in einen noch sprachärmeren Raum kommt.

Kommen wir zu den Zahlen: 5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung krankt in der westlichen Welt an Depressionen.Wie viele Menschen erkranken Hochrechnungen zufolge an Burn-out?

Diese Frage ist schwer zu beantworten, weil man nicht genau sagen kann, wann und wo Burn-out anfängt. Zudem gibt es nur sehr wenig Studien, welche dieses Thema untersuchen. Es sind aber sicher nicht nur zwei oder drei Prozent, sondern eher 20 bis 30 Prozent.

Was kann man tun, um einem Burn-out vorzubeugen?

Man kann sehr viel tun. In erster Linie sollte man darauf achten, wie sehr man sein eigenes Selbstwertgefühl an die Arbeit koppelt. Der Wert der Arbeit wird heutzutage unglaublich hoch eingeschätzt, aber wenn man dann mit seinen eigenen Leistungen nicht zufrieden ist oder nicht das erwartete Feedback erhält, kann dies schwere Folgen haben.

Interview: Lisi Lang

Zur Person

Godehard Stadtmüller ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, sowie für psychotherapeutische Medizin. Er war bis Ende 2010 Chefarzt der Adula – Klinik in Oberstdorf, einer Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik. Seine Hauptinteressensgebiete sind: Gruppentherapie, therapeutische Gemeinschaft, Depressive Störungen, Burn-out, Borderline-Störungen, Psychotherapie der Schizophrenie, Hypnotherapie, transkulturelle Psychiatrie.

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