13.000 Alzheimer-Patienten
In Südtirol gibt es rund 1.300 Alzheimer-Neuerkrankungen pro Jahr. Der Meraner Geriatrie-Primar Christian Wenter spricht über den Stand der Alzheimer-Forschung – und über den Leidensdruck der Patienten und der Angehörigen.
TAGESZEITUNG Online: Herr Wenter, wird die Alzheimer-Erkrankung genügend von der öffentlichen Hand ernstgenommen?
Christian Wenter: Mittlerweile ist das Thema Alzheimer im Bewusstsein der öffentlichen Meinung und damit auch in dem der Institutionen angelangt. Bei solchen einschneidenden Themen ist es häufig so, dass diejenigen, die nicht direkt mit dem Thema zu tun haben, die Dimension des Problems kaum erahnen können. Bei Demenzkrankheiten handelt es sich um chronisch-progrediente Krankheiten, die im statistischen Schnitt einen zehnjährigen Verlauf haben. Über so einen langen Zeitraum eine Person zu betreuen und zu pflegen, wird leicht unterschätzt. Noch dazu kommt, dass die Fallzahlen durch die weiter zunehmende Lebenserwartung in der Bevölkerung dauernd ansteigen.
Also wird das Phänomen unterschätzt?
Ich bin davon überzeugt, dass total unterschätzt wird, was in den nächsten fünf bis zwanzig Jahren auf uns zukommt. Es wird eine Lawine von Betroffenen geben. Wir hoffen zwar alle, dass es eine medizinische Lösung für das Problem geben wird, doch im Moment zeichnet sich ein Durchbruch weder bei einer kausalen Therapie, noch bei einer Prävention dieser Krankheit ab. Zusammenfassend: Ja, das Ausmaß des Phänomens wird deutlich unterschätzt.
Werden Alzheimer und Demenz die zukünftigen Herausforderungen der Medizin sein?
Es ist davon auszugehen. Obwohl die Medizin momentan so tut, als würden wir im letzten Jahrhundert leben und sich kaum an solche neuen Herausforderung anpasst. Die Medizin ist weiterhin sehr auf die Akutmedizin, also auf das Krankenhaus, fokussiert und tut sich sehr schwer mit chronisch fortschreitenden Krankheiten umzugehen. Gerade die typische Alzheimerkrankheit ist eine neurodegenerative Erkrankung, die alle Merkmale einer chronischen Krankheit hat und bei der – mehr als bei anderen Krankheiten – alle Funktionsbereiche einer Person betroffen sind: Mit der Zeit verliert eine erwachsene Person alle Funktionen.
Wie kann man Betroffenen am besten helfen?
So bald erste Verdachtsmomente auftreten, sollte nach Möglichkeit diagnostische Klarheit geschaffen werden. Es ist schließlich sehr unangenehm, wenn man im Zweifel lebt. Oft tragen Menschen diesen Zweifel monate- und jahrelang mit sich herum. Wir haben zwar meist keine medizinische Lösung im Sinne einer Heilung, doch sehr wohl Medikamente, die den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen – je früher sie eingesetzt werden, desto besser. Außerdem kann es gelingen, trotz Alzheimer noch eine recht ansprechende Lebensqualität zu haben, wenn man sich so früh wie möglich auf das unausweichliche Schicksal einstellt. Deshalb muss man die Erkrankung früh erkennen und früh mit den Behandlungen beginnen.
Wie würden Sie den Zustand eines Alzheimer-Patienten beschreiben?
Es gibt nicht „den“ Alzheimerpatienten. Es gibt eine Krankheitsverlaufskurve, die all diese Patienten durchmachen. Die Befindlichkeit einer Person ist von Stadium zu Stadium ganz unterschiedlich. Bei der typischen Alzheimerkrankheit ist es so, dass die Betroffenen selber Schwierigkeiten im Alltag bemerken – oft sogar bevor sie dem Umfeld auffallen. Wenn man selbst bemerkt, dass das ein und andere nicht mehr gelingt, dann ist das sehr unangenehm. Manche ziehen sich dann total zurück und verschließen sich – werden depressiv. Andere werden reizbar und vielleicht sogar aggressiv. Mit fortschreitender Krankheit verändert sich die Lebenssituation der Betroffenen immer mehr: Die Krankheitseinsicht nimmt ab. Wenn betroffene Patienten gut betreut sind, dann müssen sie oft gar nicht so unglücklich und leidend sein. Allerdings beginnt dann der schwierige Weg für das Umfeld – die Familien. Diese müssen immer mehr für alle Lebensaspekte des Erkrankten sorgen. Im Schnitt ist es eine zehnjährige Entwicklung. Doch es gibt auch Personen, die nach fast 20 Jahren körperlich noch rüstig sind. Es ist einfach eine sehr lang andauernde Krankheit.
Was ist der grundsätzliche Unterschied zwischen Demenz und Alzheimer?
Alzheimer ist eine neurodegenerative Krankheit, die das zentrale Nervensystem betrifft und zu einem Symptomenkomplex führt, der als Demenz bekannt ist. Demenz ist also die Summe der funktionellen Veränderungen. Neben der Alzheimer-Krankheit gibt es fast zweihundert andere Krankheiten, die ebenfalls ein Demenzsyndrom auslösen können. Demenz ist der Überbegriff. Alzheimer ist eine mögliche Ursache. Jede Alzheimerkrankheit führt früher oder später zur Demenz.
Wie viele Alzheimer-Betroffene gibt es in Südtirol?
Für Südtirol gibt es keine gute Datenlage. Weltweit gibt es allerdings kaum geographische Unterschiede in der Häufigkeit. Man kann also sagen, dass internationale und nationale Daten auf unser Land übertragen werden können. Laut ISTAT gibt es in Italien 1.250.000 Demenzkranke – und das bei knapp 60 Millionen Einwohnern. Übertragen auf Südtirol würde das heißen, dass aktuell über 7.500 Menschen betroffen sein sollten. Wir rechnen damit, dass es pro Jahr etwa 1.300 neue Erkrankungen gibt. Das ist – in der Fachsprache – eine Prävalenz von 7,5 Prozent und eine Inzidenz von 13,3 pro 1.000 Einwohner.
Die Alzheimervereinigung Südtirol geht von 13.000 Alzheimer-Betroffenen in Südtirol aus…
Es ist nun so, dass nicht nur mehr reiche Länder von dieser Erkrankung betroffen sind, sondern auch Schwellen- und Dritte-Welt-Länder. Denn auch dort steigt die Lebenserwartung an. Aktuell hat man in Ländern, wie Indien, Brasilien und China, die höchsten Zuwachsraten. Weltweit gibt es momentan 45 Millionen Betroffene – 2030 sollen es 130 Millionen sein.
Kann man die Alzheimererkrankung vererbt bekommen und wie kann man vorbeugen?
Erblich und genetisch bedingte Alzheimererkrankungen sind extrem selten. Wer in der Familie einen Fall hat, der bereits vor dem 50. Lebensjahr aufgetreten ist, der sollte sich mit Untersuchungen absichern. Alle anderen Fälle sind sporadisch: Auch wenn ein oder zwei hochaltrige Großeltern betroffen sind, hat das kaum direkte Auswirkung auf das eigene Krankheitsrisiko. In manchen Familien sind auch mehrere Personen betroffen, ganz einfach weil diese Krankheit so häufig ist. Viele Bereiche der Krankheitslehre kommen in Sachen Vorbeugung immer wieder zum selben Schluss. Der Schlüssel ist ein lebenslang gesunder Lebensstil: Viel Bewegung. Eine sorgfältige Auswahl der Genussmittel – in unseren Breitengraden ist Alkohol einer der primären Neuronen-Killer. Lebenslange intellektuelle Betätigung. Wenn man kardio-vaskuläre Risikofaktoren hat – also hoher Blutdruck, hohes Cholesterin oder Diabetes –, dann gilt es, diese Faktoren frühzeitig und aggressiv zu behandeln.
Interview: Julian Righetti
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