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„Hemmschwellen sind gesunken“

Der Ex-Primar und Drogenexperte Elio Dellantonio spricht über die Rückkehr des Heroins und die Gefahren für Südtirols Jugendliche. Und er schlägt Alarm: Die Dienste für Abhängigkeitserkrankungen seien dem Tode geweiht.

TAGESZEITUNG Online: Herr Dellantonio, in Bozen wurden binnen weniger Tage 2,5 Kilogramm Heroin beschlagnahmt. Erlebt die ehemalige Proleten-Droge Heroin auch in Südtirol wieder ein Comeback?

Elio Dellantonio: Zunächst: Heroin war nie eine Proleten-Droge, sondern sie wurde von Jugendlichen konsumiert, die eher intellektuell waren, und zwar im Sinne einer Selbstfindung oder einer Ausweitung der Selbsterkenntnis. Heroin war eigentlich in allen Bevölkerungsschichten verbreitet, allein schon wegen des Preises hätte Heroin nie eine Proleten-Droge sein können. Ob Heroin jetzt eine Renaissance erlebt, das kann man von zwei Funden nicht ableiten. Andererseits muss man diese Heroin-Funde zur Kenntnis nehmen.

Gibt es Zahlen in Bezug auf die Heroin-Konsumenten in Südtirol?

Nehmen wir den Sanitätsbezirk Bozen her: Da haben wir derzeit rund 400 Heroin-Patienten in einem Substitutionsprogramm, sie werden also mit Methadon behandelt. Wenn wir davon ausgehen, dass die Dunkelziffer mindestens einmal oder anderthalb mal so hoch ist, können wir davon ausgehen, dass wir im Sanitätsbezirk Bozen an die 1000 Menschen mit einem Heroinproblem haben.

Das sind nicht wenige …

Ja, wir haben ein Problem, aber man muss aber die Relationen sehen: Etwas mehr als die Hälfte der Heroin-Konsumenten sind nicht in Behandlung. Wenn diese 600 Patienten drei Gramm Heroin am Tag konsumieren, sind dies bereits knapp zwei Kilogramm am Tag.

Sie wollen damit sagen: Von den sichergestellten 2,5 Kilogramm Heroin könne man keine Heroin-Welle ableiten?

Richtig. Andererseits muss man aber auch sagen: In den Jahren 2000 bis 2007 hat es praktisch keine neue Heroin-Patienten unter Jugendlichen gegeben.

Die Droge Heroin war out, verpönt?

Ja. Erst nach 2007 gab es jährlich etwa drei, vier neue junge Heroin-Patienten, die vom Dienst für Abhängigkeitserkrankungen in Bozen behandelt wurden. Erst in den letzten vier, fünf Jahren ist die Zahl der Heroin-Patienten wieder angestiegen auf jeweils 30 bis 40 pro Jahr.

Prozentuell gesehen ist das viel.

Ja. Verändert hat sich auch die sogenannte Latenzperiode. Darunter versteht man die Zeit zwischen dem Erstkonsum und dem Tag, an dem die Leute sich in Behandlung begeben. Früher lag die Latenzperiode bei sieben Jahren, jetzt sind es vier Jahre.

Warum konsumieren Jugendliche wieder Heroin?

Da gibt es zunächst den Aspekt der aufputschenden und halluzinogenen Substanzen: Immer mehr Jugendliche benutzen Heroin, um sich nach dem Konsum von psychoaktiven Substanzen wieder zu beruhigen …

Um herunterzukommen?

Richtig. Sie benutzen Opiate, um wieder herunterzukommen.

Eine Art Selbstmedikation?

Das kann man so sagen. Diese Leute konsumieren Kokain, Ecstasy oder andere psychoaktive Substanzen, und um von ihrem Trip wieder runterzukommen, rauchen sie Heroin. Der zweite Aspekt ist: Das Heroin wird heute nicht mehr – wie in den 70er- und 80-er-Jahren – gespritzt, sondern auf Alufolie erhitzt, der Dampf wird inhaliert.

Glauben die Konsumenten, dass es keinen Unterschied macht, ob man Haschisch oder Heroin raucht?

Für viele Konsumenten trifft dies sicher zu.

Die Jugendlichen von heute kennen die Wir-Kinder-vom-Bahnhof-Zoo-„Romantik“ nicht mehr, sie haben keine Angst mehr vor Heroin?

Das stimmt, und es kommt noch der Umstand hinzu,  dass das Rauchen von Heroin die Hemmschwellen zusätzlich gesenkt hat. Andererseits werden durch das Rauchen und Inhalieren viel größere Mengen konsumiert. Für viele Konsumenten wird es dann – auch aus Geldgründen – zum Zwang, sich das Zeug zu spritzen. Das kommt häufig vor.

Das Suchtpotential von Heroin ist beim Rauchen gleich groß wie beim Spritzen?

Heroin ist immer hochgefährlich! Das Suchtgift geht in beiden Fällen in die Blutbahnen. Den Unterschied macht nur die Menge. Beim Rauchen braucht man die größere Menge, als beim Spritzen. Aber das Suchtpotential ist immer dasselbe. Und was viele Jugendliche leider nicht wissen: Durch seine gravierenden körperlichen Entzugssymptome ist Heroin viel schlimmer und nachhaltiger als Kokain. Bei Kokain ist die psychische Abhängigkeit unmittelbar größer und dramatischer, doch die körperliche Abhängigkeit geringer.

Glauben die neuen Konsumenten, dass eine Droge, die man nicht spritzt, nicht gefährlich ist?

Die Haltung spielt sicher eine Rolle.

Der Rückgang des Heroin-Konsums ging in den 90er-Jahren auch mit dem HIV-Alarm einher. Kann man generell sagen, dass die Hemmschwellen in Bezug auf Heroin wieder gesunken sind?

Ja.

Auch in Südtirol sind Fälle von 13- und 14-Jährigen bekannt, die sich mit einem Heroin-Problem an die Dienste für Abhängigkeitserkrankungen gewandt haben.

Hier würde ich aufpassen. Es hat diese Einzelfälle gegeben. Aber man kann nicht von einem Heroin-Phänomen unter Minderjährigen sprechen.

Heroin ist heute auf dem Markt für 30 Euro pro Gramm zu haben. Welche Rolle spielt der niedrige Preis?

So billig ist das nicht, denn wenn Konsumenten das Heroin rauchen, brauchen sie größere Mengen.
Es heißt auch, Heroin würde von den Dealern bereits so verpackt, dass man es sofort auf Folie rauchen kann.
Das ist mir nicht bekannt, ich schließe das aber auch nicht aus.

Herr Dellantono, Sie haben jahrelang den Dienst für Abhängigkeitserkrankungen in Bozen als Primar geleitet: Wie können sich Eltern vor dem Hintergrund dieses neuen Heroin-Szenarios verhalten?

Eine Suchtproblematik muss sich nicht entwickeln, wenn man es mit einem Gelegenheitskonsum zu tun hat. Aber die Gefahr besteht natürlich. Eltern sollten insbesondere darauf achten, dass der Kontakt und die Beziehung zwischen Kind und Vertrauenspersonen nicht abreißt. Jugendliche, die Drogen konsumieren, zeigen oft ein Rückzugsverhalten, sprechen nicht viel, da kann ein Beziehungsvakuum entstehen und wichtige Zeit verloren gehen. Es ist einerseits wichtig, dass das Thema Drogen vonseiten der Eltern enttabuisiert wird. Man muss darüber sprechen! Man muss die Jugendlichen begleiten, beobachten, fragen. Man muss zu ihnen eine Beziehung aufbauen. Und noch einmal: Man sollte die Thematik nicht dämonisieren, umso mehr nicht vor dem Hintergrund, dass es in der Familie vielfach auch andere Abhängigkeitsproblematiken gibt …

Sie meinen den Alkohol?

Ja, Sie müssen sich nur vor Augen halten, dass allein im Sanitätsbezirk Bozen – heruntergerechnet – täglich 2.000 Liter reiner Alkohol getrunken wird. Wie gesagt: Reiner Alkohol! Das sind Zahlen, die man ebenfalls erwähnen sollte.

Das Wichtigste ist, das Thema nicht zu dämonisieren?

Ja, man sollte darüber reden und sich an kompetente Dienste wenden, wobei derzeit die Sorge groß ist, dass die Dienste für Abhängigkeitserkrankungen dem Tode geweiht sind.

Im Ernst?

Ja, es fehlen die Ärzte, es wird zu wenig investiert, es gibt keinen Plan, vieles, was aufgebaut wurde, wird sich selbst überlassen. Im Betrieb herrscht reines Management-Denken, ein komplexer Dienst wie jener für die Abhängigkeitserkrankungen wird zu wenig gefördert, der Betrieb geht damit denkbar schlecht um.

Klingt wenig schmeichelhaft. Wäre es sinnvoll, einen landesweiten Dienst auf die Beine zu stellen?

Ja, weil derzeit gibt es drei Primariate, in Brixen ist der Dienst der Psychiatrie unterstellt. Klarerweise will der Betrieb sparen. Außerdem gibt es keine gemeinsame Strategie, keine Vision, keinen Plan.

Glauben Sie, man will die Dienste dem Forum Prävention unterstellen?

Das wäre schwer möglich, denn der Dienst für Abhängigkeitserkrankungen ist ein sanitärer und niederschwelliger Service.

Also plant der Betrieb, die Dienste in die Psychiatrien einzuverleiben?

Das ist möglich, wobei in dem Fall die suchtspezifische Kompetenz verloren ging. Und man weiß auch Erfahrung, dass die Suchtdienste, die den Psychiatrien angegliedert sind, sehr stiefmütterlich behandelt werden. Es gibt zweifelsohne die Tendenz im Betrieb, die Potenzialiät der Dienste von innen auszuhöhlen.

Interview: Artur Oberhofer

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