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„Wir dürfen keine Fehler machen“

Bisher war es tabu über Suizide zu sprechen, um Nachahmer zu vermeiden. Aber wie soll man im Zeitalter der sozialen Medien mit Suiziden umgehen? 

TAGESZEITUNG Online: Herr Primar, Suizid ist ein Thema, über das gerne geschwiegen wird. Ist Schweigen das richtige Mittel?

Roger Pycha: Dieses Thema ist natürlich noch immer sehr tabu, aber wir wissen aus Studien, dass Schweigen besser ist, als spektakuläre Berichterstattungen. Es gibt aber durchaus eine Berichterstattung zum Thema, die wenn sie nüchtern ist und auf wissenschaftlichen Fakten beruht, nützlich sein kann.

Die Fälle von acht Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 22 Jahren, die sich in letzter Zeit im Raum Eisacktal und Pustertal das Leben genommen haben, schockieren. Wie muss man mit derartigen Fällen umgehen? 

Man sollte zunächst einmal sehr vorsichtig damit umgehen. Die letzte Suizidwelle in Südtirol geht auf das Jahr 1990 zurück. Damals waren es junge Männer im Vinschgau, die sich auf ähnliche Weise das Leben genommen haben. Damals wurde vor allem den Medien ans Herz gelegt, nicht spektakulär über Suizide zu berichten, da es Nachahmungseffekte geben könnte. Heute haben wir eine ganz andere Situation: Die offiziellen Medien halten sich noch weitgehend an diese Anweisungen. Nur haben wir soziale Netzwerke, die unter Jugendlichen enorm große Kontaktmöglichkeiten schaffen. Und über diese neuen Medien können Suizidnachrichten sehr schnell gestreut werden.

Also auch wenn offizielle Medien nicht über diese Themen schreiben, verbreiten sich die Nachrichten. Ist damit das Schweige-Rezept noch aktuell? 

Anlässlich der letzten Fälle wird eine Diskussion darüber aktuell. Wir haben keine andere Chance als den Nutzern der sozialen Medien zu empfehlen, nach ethischen Gesichtspunkten vorzugehen und eine Auswahl zu treffen. Wir sollen nicht in das Verhalten des Cybermobbings abrutschen und genauso wenig schockierende Suizidnachrichten weiterverbreiten. Warum? Weil man nicht weiß, auf wen diese Nachricht irgendwann triff, ob sich diese Person vielleicht gerade in einer Krise befindet und dadurch die Gefahr einer Nachahmungstat entsteht.

Nachrichten wie diese verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Wäre es nicht wichtig, indem man darüber redet, die Art und die Richtung der Diskussion zu beeinflussen?

Genau das möchten wir. Aber das Phänomen ist neu und bisher mussten bzw. konnten wir uns noch nicht so sehr damit auseinandersetzten, dass Suizidneuigkeiten über die sozialen Netzwerke verbreitet werden. Natürlich bedeutet das auch für die öffentlichen Medien: Besprechen wir das Phänomen und neue Gefahrenmomente, die mit Internet und sozialen Medien verbunden sind. Es gibt gefährliche Nachrichten und es hängt von meinem Verhalten ab, ob diese verbreitet werden – ich bin als Entscheider aktiv gefordert.

Acht junge Menschen – alle Männer. Was sagt uns das?

Wir hatten die große Gelegenheit in den Jahren 2000 bis 2009 in einer breit angelegten Studie jeden einzelnen Suizid des Landes präzise nachzuuntersuchen. Diese Methode nennt man psychologische Autopsie und hat uns geholfen, eine große Menge an Informationen über mögliche und neue Gefahren zu sammeln. Dann wurde diese Studie eingestellt und jetzt fordern wir, dass sie angesichts der neuen Erkenntnisse und Gefahren wieder aufgenommen wird. Damit würden wir Antworten auf die so dringenden Fragen bekommen.

Die Schüler hören von den Vorfällen über soziale Medien und andere Kanäle. Wie sollte man diese Nachrichten aufarbeiten? Ist die Schule der richtige Ort dafür?

Ab jetzt unbedingt. Ich glaube das ist ein Thema für die Schule. Wir haben in den Jahren 2004 bis 2008 sehr viel im Bereich Suizidprävention getan und auch ein Buch herausgegeben, wo Informationen und Hilfestellungen für Lehrer enthalten sind, um derartige Themen aufarbeiten zu können. Ich denke, dass die Schule diesen Diskurs künftig noch mehr nötig haben wird.

Erst vor kurzem hat der Niederländer Viktor Staudt in Bozen über seinen misslungenen Suizidversuch gesprochen. Heute sagt er, dass die Einsamkeit, die man als suizidgefährlicher Mensch verspürt, noch schlimmer werden kann, als die Sorgen und Probleme, die einen in diese Situation geführt haben…

Das ist eine exzellente Selbstanalyse. Wir haben viel darüber nachgedacht, warum die italienische Bevölkerungsgruppe weniger gefährdet ist als die deutsche. Möglicherweise ist dies kulturell bedingt: Ein Süditaliener schreit die Krise heraus, jammert und wird bemerkt. Die deutschsprachige Sozialisation beißt die Zähne zusammen und je schlechter es ihr geht, desto höher wird der Druck auf die Zahnreihen. So falle ich nicht auf, so begebe ich mich in die Einsamkeit.

Nun muss man sich überlegen, wie man dieses neue Phänomen im Netz steuern kann. Haben Sie Angst davor, dass eine derartige Diskussion – auch wenn sie objektiv geführt wird – Nachahmer anregt? 

Genau das ist der Punkt. Wenn wir eine sehr offene Informationspolitik betreiben, müssen wir aufpassen, dass wir keine Nachahmungstaten verursachen. Wir dürfen keine groben Fehler machen.

Zusammenfassend: Darüber reden ja, aber mit Vorsicht?

Darüber reden ja, aber mit Vorsicht, damit Hysterisierungsphänomene vermieden werden. Ich habe beispielsweise Angst, dass wenn dieses Thema in den Schulen groß verbreitet wird, eine Alarmstimmung entsteht und Schüler sich auf Symptome hin beobachten. Das soll in einer Schule nicht passieren. Dieses Thema soll zwar behandelt werden, aber mit der nötigen Zurückhaltung und Nüchternheit.

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