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Der Kettensäge-Mord

plack-02Auf der Grundlage von bislang unter Verschluss gehaltenen Dokumenten dokumentiert TAGESZEITUNG-Chefredakteur Artur Oberhofer einen der spektakulärsten Kriminalfälle in Südtirol: den Kettensäge-Mord von Marling.

von Lisi Lang

Mittwoch, 18. November 2001: Massimo Burchiellaro, 39, ein Bediensteter der privaten Sicherheitsfirma Generalpol, befindet sich auf der Fahrt von Meran nach Bozen, als er gegen 09.45 Uhr in Marling auf die Südspur der MeBo auffahren will.

Weil er plötzlich einen Harndrang verspürt, steuert der Security-Mann den gepanzerten Wagen kurz vor der MeBo-Auffahrt in eine Obstwiese.

Als Massimo Burchiellaro seine Notdurft verrichtet, stockt ihm plötzlich das Blut in den Adern.

bildschirmfoto-2016-10-27-um-10-14-54Der Generalpol-Mann erblickt zu seiner Linken einen leblosen Körper, der im taunassen Gras liegt. Rücklings.

Massimo Burchieallaro nähert sich vorsichtig dem leblosen Körper. Es ist die Leiche eines jungen Mannes.

Massimo Burchiellaro sieht die frischen Blutspuren im Gras. Er fasst die Leiche nicht an und achtet darauf, keine Spuren zu zerstören. „Ich habe gesehen, dass das Gesicht des Toten grau-gelblich eingefärbt war, folglich ging ich davon aus, dass der Mann bereits seit Stunden tot ist“, sagt der Bedienstete der Sicherheitsfirma später aus.

Massimo Burchiellaro eilt zurück zu seinem Sicherheitstransporter. Mit seinem Handy wählt er die Notrufnummer der Carabinieri.

Der Anruf des Security-Mannes geht an jenem Mittwoch um 09.51 Uhr bei den Carabinieri in Meran ein.

Den Kripo-Beamten, die kurz nach 10.00 Uhr eintreffen, bietet sich ein makabres Szenenbild.

Der Tote in der Wiese trägt einen Bürstenhaarschnitt, die Kopfseiten sind kahlrasiert. Der junge Mann liegt zwischen den kahlen Obstbäumen rücklings im herbstlich gebräunten, vom Morgenfrost befeuchteten Gras. Die Augen sind schockstarr geöffnet. Der Mund ebenso. Der leblose Körper ist leicht nach rechts geneigt.

Die Arme des Toten sind ausgestreckt, die Handflächen zeigen nach unten und liegen auf goldenem Herbstlaub.

Der Mann ist mit einer schwarzen Windjacke bekleidet.

Im linken Kniebereich klafft eine große und tiefe Wunde.

Die Ermittler in der Obstwiese in Marling

Die Ermittler in der Obstwiese in Marling

In der Marlinger Obstwiese entsteht an diesem November-Vormittagein unheimliches, ein gespenstisches Stillleben: Das frische, hellrote Blut auf dem Wiesenboden kollidiert mit dem saftigen Grün der letzten frischen Grashalme, die den klaren und frostigen Nächten getrotzt haben.

Der Reif, der sich über Nacht wie ein gläserner Deckel auf die Todeswiese gelegt hat, wird unter der herbstlichen Morgensonne zu Wasser, das rot und grün und braun perlt.

Was erzählen diese Blutspuren im Gras?

Aufgrund der Nähe des Fundortes der Leiche zur MeBo ziehen die Ermittler zunächst einen Verkehrsunfall in Betracht.

20 Zentimeter neben dem rechten Ohr des Toten liegt ein Handy der Marke Motorola.

Das Handy des Typs StarTAC ist aufgeklappt. Das Display ist ausgeschaltet.

Der Tote in der Wiese ist bald identifiziert.

Die Kettensäge

Die Kettensäge

In der Brieftasche, die beim Toten gefunden wird, entdecken die Ermittler eine von der Stadtgemeinde Meran ausgestellte Identitätskarte lautend auf: Andreas Plack, geboren am 20. Juni 1978. Ledig. Volksschulabschluss. Wohnhaft in Meran.

Was ist am Abend des 27. November bzw. in der Nacht auf den 28. November 2001 in der Obstwiese in Marling passiert?

Staatsanwalt Guido Rispoli, dem dieser Kriminalfall aus Turnusgründen in den Schoß fällt, wird später von der „irrwitzigsten Bluttat“ sprechen, mit der er als Ermittler konfrontiert war.

Noch ahnen Staatsanwalt Rispoli und seine Fahnder nicht, dass dieser Fall weltweit für Schlagzeilen sorgen würde. Dass diese Tat es in die Chronik der spektakulärsten Verbrechen schaffen würde. Dass dieser Fall in wenigen Stunden eine völlig unerwartete, krasse, ja unglaubliche Wende nehmen würde.

In einem neuen Buch dokumentiert TAGESZEITUNG-Chefredakteur Artur Oberhofer den Kettensäge-Mord von Marling.

Die Spurensicherung in der Obstwiese in Marling

Die Spurensicherung in der Obstwiese in Marling

Der Autor konnte bislang unter Verschluss gehaltene Akten einsehen: beispielsweise die zahlreichen Verhörprotokolle von Christian Kleon.

Das Ergebnis dieser packenden Spurensuche: Artur Oberhofer enthüllt auf der Grundlage noch unveröffentlichter Verhörprotokolle, wie Andreas Plack zunächst den Versicherungsberater Werner K. zum unfreiwilligen Helfer machte.

Eines der von Andreas Plack eingeholte Angebote für eine Polizze

Eines der von Andreas Plack eingeholte Angebote für eine Polizze

Andreas Plack schloss binnen 18 Tagen vier Versicherungspolizzen ab. Eine der im Buch erörterten Fragen: Warum haben bei Werner K. angesichts dieser „Versicherungswut“ nicht die Alarmglocken geklingelt?

Der Autor rekonstruiert außerdem, wie Andreas Plack bei seinem Cousin Christian Kleon den anfänglichen Widerstand gebrochen und ihn zum Mörder gemacht hat (dazu lesen Sie mehr auf TAGESZEITUNG Online am Montag).

Oberhofer geht der Frage nach, ob es im Fall Plack Mitwisser oder gar Komplizen gegeben hat. Und er beleuchtet das komplexe Familiensystem der Familien Plack-Kleon, also das Umfeld, in dem sich dieser unglaubliche Fall zugetragen hat: So wie Andreas Plack mit einer Cousine liiert war, hatte auch Christian Kleon ein Verhältnis mit einer Cousine.

Buchautor Artur Oberhofer

Buchautor Artur Oberhofer

Artur Oberhofer rekonstruiert, wie bei Andreas Plack der fatale Entschluss gereift ist, sich zum Zwecke des Versicherungsbetrugs ein Bein absägen zu lassen.

Der Autor enthüllt, dass sich Plack bereits Monate vor der Tat von einem Burggräfler Landwirt das Bein absägen lassen wollte.

Artur Oberhofer erstellt das Psychogramm eines jungen Mannes, der vom großen Befreiungsschlag, vom Mega-Glückstreffer und von einem sorglosen Leben träumte. Der TAGESZEITUNG-Chefredakteur erzählt die erschütternde Geschichte eines 23-Jährigen, der des Geldes willen bereit ist, ein Bein zu opfern.

Dabei sei Andreas Placks diabolischer Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.

Der Pathologe Eduard Egarter Vigl wird im Buch zitiert:

„Andreas Plack hatte offenbar keine Ahnung davon, mit welchem Druck das Blut herausspritzt, er dachte wohl an eine Blutung, wie man sie in Erste-Hilfe-Kursen bespricht. Aber in seinem Fall war – bildlich gesprochen – ein Gartenschlauch offen, da spritzt das Blut meterweit, auch 15 Meter und weiter. Bei der Größe der Oberschenkelarterie dürfte er innerhalb von nur einer Minute einen halben bis drei Viertel Liter Blut verloren haben.“

Das Cover des neuen Buches

Das Cover des neuen Buches

Sieben Minuten dauerte Andreas Placks Todeskampf.

Artur Oberhofer dokumentiert in dem neuen Buch auch den verzweifelten Versuch des sterbenden Andreas Plack, telefonisch Hilfe anzufordern.

In der Notrufzentrale des Polizeikommissariates am Kornplatz in Meran sitzt am Abend des 27. November 2001 Walter Pixner.

Der Polizeibeamte nimmt um Punkt 20.52 Uhr und 50 Sekunden Uhr den ersten Anruf entgegen, der von Andreas Placks Handy abgeht. Walter Pixner meldet sich ganz unaufgeregt mit dem Standard-Satz: „Centotredici. Hundertdreizehn.“

Am anderen Ende meldet sich niemand.

Die Geräuschkulisse hört sich für den Polizeibeamten so an, als ob jemand versehentlich auf die Tasten gedrückt und den Anruf unbeabsichtigt ausgelöst hätte. Nach sechs Sekunden wird das Gespräch unterbrochen. Nur wenige Sekunden später, um 20.53 Uhr und 12 Sekunden, geht der zweite Anruf von Andreas Plack ein.

Das Handy von Andreas Plack

Das Handy von Andreas Plack

Der Polizeibeamte erkennt an den störenden Nebengeräuschen, dass der Anruf von einem Mobiltelefon kommt. Walter Pixner vernimmt in der Folge seltsame Laute, die sich wie Schmerzensschreie einer männlichen Person anhören.

„Aaaaaaaaaaaahhhhh …“

Man hört eine Person, die schwer ein- und ausatmet.

Der Polizeibeamte lässt einige Sekunden verstreichen, er presst den Hörer noch fester ans Ohr und versucht ganz genau hinzuhören. Doch er vernimmt nur ein Stöhnen, ein Keuchen, ein Röcheln. Sonderbare Laute.

Der Polizeibeamte fragt sicherheitshalber im Südtiroler Dialekt nach. „Wos isch passiert?“

Keine Antwort!

Erneut vernimmt der Beamte in der Notrufzentrale einen Schmerzensschrei. Diesmal lauter und länger.

„Auuuuuuuuuuhhhhhhh.“

Dann fällt die Linie.

Dieser zweite Anruf dauert genau 20 Sekunden.

Walter Pixner geht davon aus, dass sich jemand einen dummen Scherz erlaubt hat. Das kommt öfters vor.

Der Polizeibeamte nimmt den Vorfall denn auch nicht weiter ernst. Denkt an einen dummen Scherz.

Walter Pixner ahnt zu dem Zeitpunkt nicht, dass die Schmerzensschreie, die er soeben am Telefon gehört hat, das letzte Lebenszeichen des qualvoll leidenden Andreas Plack waren.

LESEN SIE MORGEN AUF TAGESZEITUNG ONLINE:

  • Die noch unveröffentlichten Auszüge aus dem Geständnisprotokoll von Christian Kleon

 

 

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