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Das Erste-Hilfe-Dilemma

Die langen Wartezeiten in der Bozner Ersten Hilfe sind für viele Patienten ein Grund zur Beschwerde. Der Primar der Ersten Hilfe, Mario La Guardia über die Ursachen für diese Wartezeiten und mögliche Lösungen.

Tageszeitung: Herr Primar, die Bozner Erste Hilfe-Abteilung steht immer wieder im Fokus von Kritik seitens der Patienten. Sind diese Kritikpunkte gerechtfertigt oder verstehen viele Patienten nicht, wie die Abteilung funktioniert?

Mario La Guardia: Es gibt Kritik, aber glücklicherweise halten sich die Protestbriefe in Grenzen. Die meisten dieser Briefe enthalten Beschwerden über die zu langen Wartezeiten – und darin haben die Patienten Recht. Es gibt Personen, die mehrere Stunden im Krankenhaus verbringen, bis sämtliche Kontrollen und Visiten abgeschlossen sind.

Warum kommt es zu derart langen Wartezeiten?

Das hat verschiedene Gründe. Einerseits ist es der Struktur der Abteilung zuzuschreiben: Die Räumlichkeiten wurden in den 60er Jahren ursprünglich als Magazin geplant, bevor sie zur Notaufnahme umfunktioniert wurden. Zudem wurde die Kapazität auf 30.000 Patienten pro Jahr festgelegt. Diese Anzahl haben wir mittlerweile weit überschritten. Heute sprechen von rund 130.000 Patienten pro Jahr. Wir behandeln durchschnittlich rund 280 Personen pro Tag – in Tourismuszeiten steigt diese Anzahl auf 350 Patienten – und am Wochenende kommen wir auf durchschnittlich 600 Fälle.

An Feiertagen, Wochenenden und in den Nachtstunden wird die Lage zudem schwieriger…

Genau. Unsere Ärzte arbeiten mindestens zwei Wochenenden pro Monat und wir können nicht mehr verlangen. Jedes Wochenende sind die Hälfte unserer Ärzte im Einsatz, also 10 von 20 Mitarbeitern. Mehr geht nicht. Diese Probleme müssten mit der neuen Klinik gelöst werden, weil sie mehr Platz bietet, aber nur, wenn auch das Personal dementsprechend erhöht wird.

Wie sieht es mit den Patienten aus. Benötigen wirklich alle eine Versorgung in der Notaufnahme?

Nein. Viele der Patienten könnten auch von einem Hausarzt versorgt werden. Aber damit sprechen wir ein weiteres Problem an: die mangelnde Betreuung im Territorium. Kleinere Dinge müssten dort versorgt werden, da die Wartezeiten automatisch ansteigen, desto mehr Fälle in der Notaufnahme landen. Zudem gibt es keinen 24-Stunden Dienst oder einen Wochenend-Dienst im Territorium, was wiederum erklärt, warum gerade diese Zeiten für uns zur Katastrophe werden können. Die Erste Hilfe in Bozen ist auch Referenzzentrum für verschiedene schwere Fälle und vor allem am Wochenende kommen daher weitere Patienten aus anderen Bezirken zu uns. Im Klartext heißt das: Es gibt richtige Notfälle, die Transporte ins Referenzzentrum nach Bozen und ein Meer voller Menschen, die vom Basismediziner begutachtet werden müssten – und genau diese Menschen beschweren sich meist auch über die langen Wartezeiten.

Man gibt gerne Senioren die Schuld an diesen langen Wartezeiten, weil sie auch wegen Kleinigkeiten sofort in die Erste Hilfe rennen…

Senioren sind nicht vorrangig Schuld an diesen langen Wartezeiten. Bei älteren Menschen kann man es viel mehr verstehen, weil sie oft nicht sehr autonom sind. Die langen Prozeduren, die sie über einen Hausarzt abwickeln müssen, nehmen viel Zeit in Anspruch. Es gibt allerdings viele junge Menschen, die den Gang zum Basismediziner auslassen, um direkt eine ärztliche Leistung zu erhalten – und das hat keinen Sinn.

Auch die Meinung, dass Ausländer den Dienst ausnutzen, hält sich hart…

Es stimmt, dass viele Ausländer kommen und diese vor allem in den Abendstunden anzutreffen sind. Das hat aber auch mit ihrer Kultur zu tun. Viele Frauen können und dürfen alleine nichts tun, daher warten sie bis ihr Mann von der Arbeit kommt und fahren dann gemeinsam ins Krankenhaus.

Wie könnte also eine Lösung dieses Problems aussehen?

In der neuen Klinik, wird man mehr Platz haben und es werden auch mehr Ambulatorien zur Verfügung stehen – daher müsste es besser funktionieren. Die Menschen müssen aber auch verstehen, dass ein Krankenhaus hohe Kosten hat und daher wieder ein Ort für akute Fälle werden muss. Die Reform müsste aber auch Zentren im Territorium vorsehen, die einen 24 Stunden-Dienst leisten oder mindestens von 8 Uhr bis 20 Uhr zur Verfügung stehen. Damit könnte man das Krankenhaus entlasten.

In vielen Abteilungen klagt man über einen Ärztemangel und vor allem über die Schwierigkeiten neue Ärzte zu finden. Ist dies auch in Ihrer Abteilung so?

Das ist ein großes Problem. Nicht jeder möchte in einer Notaufnahme arbeiten. Man hat hier nicht die Ruhe und Zeit, wie in einer normalen Abteilung. Jeder Arzt hat viel Verantwortung und muss schnell die richtigen Entscheidungen treffen. Man muss auch mit Stress gut umgehen können: Wenn ein gravierender Fall eintrifft, muss man schnell handeln und kann nicht in Panik geraten. Man hat oft auch keine Zeit um einen Fall zu verarbeiten, weil der nächste kommt. Wir kommen oft an die Grenzen der Belastbarkeit: Ein Kind stirbt, man muss es den Eltern sagen und danach beschwert sich jemand, dass er Schmerzen im Knie hat und bereits mehrere Stunden wartet – dass diese Beschwerden dem Arzt eher egal sind, nachdem was er bereits durchgemacht hat, wollen viele Patienten nicht verstehen.

Werden die Ärzte von Psychologen betreut, um bestimmte Fälle zu verarbeiten?

Nein. In bestimmen Situationen wäre eine psychologische Betreuung aber sicher nicht falsch. Bestimmte Fälle nimmt man auch nach der Schicht mit nach Hause und denkt dort weiter. Patienten wissen oft nicht, welchen Fall ein Mediziner vorher betreut hat und urteilen daher schnell – aber auch Ärzte sind nur Menschen.

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