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Willkürlich Deutsch

Willkürlich Deutsch

Ein bisher geheimes Gutachten des Bundestags beschäftigt sich mit Südtirols Minderheiten ­– und bescheinigt italienischen Beamten „unzureichende Deutschkenntnisse.“

Von Anton Rainer

Wie sieht der deutsche Bundestag die Welt? Antworten auf diese Frage waren in der Vergangenheit nur einem äußerst begrenzten Personenkreis vorbehalten. Zwar von Steuergeldern finanziert erstellte der „Wissenschaftliche Dienst“ des Parlaments jährlich hunderte Gutachten, um Abgeordneten „bei der Ausübung ihres Mandats“ zu helfen – lesen aber durfte sie kaum jemand.

Das änderte sich vor wenigen Wochen, als der Wissenschaftliche Dienst seine Geheimniskrämerei beendete und sich dem Druck von Onlineportalen wie „fragdenBundestag.de“ beugte. Die Folge: Mehr als 900 Gutachten und Ausarbeitungen wurden innerhalb kürzester Zeit im Internet veröffentlicht, darunter zahlreiche Dokumente, die bisher als streng vertraulich galten. Die Themenbereiche reichen dabei vom Freihandelsabkommen TTIP bis zum „Nacktbaden auf einem benachbarten Grundstück“ – und betreffen in einem konkreten Fall Südtirol.

Sowohl Verfasser als auch Auftraggeber des Gutachtens „Zum Statuts der Åland-Inseln, der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien sowie Südtirol“ wurden geschwärzt, der Rest des 2008 erstellten Dokuments aber ist seit wenigen Wochen vollinhaltlich einsehbar.

Konkret enthalten ist in dem rund 42 Seiten starken Gutachten ein kurzer geschichtlicher Abriss, in dem unter anderem Selbstbestimmung und Option in wenigen Sätzen abgehandelt werden. So heißt es etwa knapp: „1939 kam es zu einem Abkommen zwischen Berlin und Rom zur Umsiedlung der deutschsprachigen Südtiroler ins nationalsozialistische Deutschland.“

Interessanter wird es, als der Wissenschaftliche Dienst auf den aktuellen Zustand der Autonomie zu sprechen kommt. Hier habe es Südtirol geschafft,

die Individual- und Gruppenrechte beider Volksgruppen auf wirtschaftlichem, politischem und sprach- kulturellem Gebiet in wohl einmaliger Form zu garantieren und damit ein hohes Maß an Interessenausgleich und Rechtssicherheit zu schaffen.

Ein Lob, das an anderer Stelle zu einem (mittlerweile teils veralteten) Fazit führt. Hier schreiben die Wissenschaftler:

All dies führte dazu, dass ein dreißigjähriger Konflikt, dessen Komplexität angesichts der ausdifferenzierten Regelungen des Pakets deutlich wird, heute abzuklingen scheint. Zwar ist es zwischen Österreich und Italien um die Frage des Abschlusses eines Freundschaftsvertrages, wie ihn der Operationskalender ursprünglich vorsah, still geworden; diskutiert wird jedoch die Schaffung einer „Europa-Region Tirol“ auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages zwischen Österreich und Italien.

Ausführlich geht das Dokument auf die „sogenannte Zweisprachigkeitsprüfung“ ein, die sich nach ihrer Einführung als effizientes Ausgleichs- und Stabilitätsinstrument bewährt habe. Ein erfolgreicher Mechanismus, der oft aber nur in der Theorie funktioniere. So heißt es im Text:

Im Hinblick auf die praktische Handhabung wird jedoch bemängelt, dass viele im öffentlichen Dienst stehenden Italiener unzureichende berufsbezogene Deutschkenntnisse haben und nur willkürlich davon Gebrauch machen (vgl. Riedmann, der eine wachsende Verwilderung der deutschen Sprache in Südtirol und ein Absinken zur Zweitrangigkeit […] befürchtet.)

Dass der Proporz in einer „weniger von ideologischen Aspekten als von der volkstumspolitischen Zuordnung“ geprägten Demokratie auch an anderen Stellen für Probleme sorgt, wird deutlich, als das Gutachten auf legislative Aspekte zu sprechen kommt. Hier könnten Regelungen zum Schutz der ethnischen Frage „unter Umständen das Verfahren derart verkomplizieren, dass die Regionalgesetze bis zu fünf Mal eine Mehrheit finden müssen.“ Abgesehen von Querelen in der Region aber seien Berührungspunkte zwischen den beiden Volksgruppen minimal, erklären die Gutachter – umso besser seien dafür die „Beziehungen zur Mutternation“ Österreich. Aus kultureller Sicht sei das Verhältnis zum gesamten deutschen Sprachraum „sehr eng“, man könne von einem „freien Kulturaustausch“ sprechen.

Was Anhänger der Volkstumspolitik besonders freuen dürfte: An mehreren Stellen nennen die Gutachter die Provinz Bozen irrtümlich „das Land Tirol.“

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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