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„Aufwiederschauen, Europa“

 

fischler grenzeFranz Fischler sagt im Interview, die Euregio könne in der Flüchtlingskrise beweisen, dass sie mehr sei als nur ein Debattierclub. Der Ex-EU-Kommissar wirft den EU-Regierungschefs Versagen vor – und warnt vor einer Katastrophe am Brenner.

TAGESZEITUNG Online: Herr Fischler, hätten Sie gedacht, dass zwischen Nord- und Südtirol noch einmal ein Zaun errichtet würde?

Franz Fischler: Es geht nicht darum, eine Grenze, zwischen Nord- und Südtirol zu errichten. Es geht darum: Wie kann man, besser als bisher, mit dem Strom der Flüchtlinge umgehen? Die Schwierigkeit, die ich sehe ist: Es liegt ein riesiges Versagen Europas, ich würde sogar sagen der gesamten Welt in Bezug auf Syrien vor. Daher werden dort jeden Tag zigtausend neue Flüchtlinge, wenn man so will, produziert.

Das ist die Wurzel des Problems?

Ja. Man muss damit rechnen, dass die Mittelmeerstrecke wiederbelebt wird, etwa aus Libyen. Und dann kommt ein neues Problem hinzu: In Ostafrika entwickelt sich eine Hungerkatastrophe. In all diesen Krisenregionen ist Europa mehr oder weniger inaktiv, auf keinen Fall nicht die bestimmende Kraft.

Wie erklären Sie sich das Versagen Europas?

Das liegt ja auf der Hand: Die Regierungschefs Europas sind nicht in der Lage, gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Konzepte anzugehen. Sie können sich nicht einigen, das ist das wahre Problem!

Könnte oder sollte die EU-Kommission eine aktivere Rolle einnehmen?

Die Kommission ist leider im Bereich der Außen- und der Sicherheitspolitik nicht gerade mit sehr viel Kompetenz ausgestattet. Es bedarf ja, wie Sie wissen, weiterhin der Einstimmigkeit. Das heißt: Wenn der Club der Regierungschefs sich auf nichts verständigt, dann findet auch nichts statt. Was man gegenüber der Kommission aber schon auch sagen muss ist, dass insbesondere in Zusammenhang mit Syrien die Implementierung der Maßnahmen, die bereits beschlossen worden sind, auch nicht funktioniert. Da liegt klares Kommissionsversagen vor.

Zum Beispiel?

Es ist ja geradezu ein Witz, dass man vor vier, fünf Monaten beschlossen hat, 160.000 Flüchtlinge auf die EU-Staaten aufzuteilen, und jetzt feststellen muss, dass bis jetzt nur 600 Flüchtlinge aufgeteilt wurden (lacht). Auch wurde beschlossen, die Frontex-Truppen aufzustocken. Das ist auch nicht erfolgt. Auch wurde beschlossen, einen Finanz-Fonds für Syrien einzurichten. Von diesem Fonds ist gerade einmal 1 Prozent ausbezahlt worden. Sie sehen: Die Kommission und die Verwaltungen versagen hier.

Wenn man sich die Positionen der einzelnen Regierung ansieht – etwa in Deutschland oder Ungarn –, scheint es ziemlich unwahrscheinlich, dass sich daraus eine einheitliche Linie wird gießen lassen …

Sie haben recht! Das würde aber bedeuten: Aufwiederschauen, Europa! Aber die Schlussfolgerung kann nicht sein: Gute Nacht, Europa! Das hieße, dem Nationalismus Vorschub leisten.  

Diesen Eindruck hat man …

Ja, so schaut es derzeit aus! Leider! Nur: Das ist nur ein Teil des Problems. Denn hinzu kommt, dass sich die europäischen Staaten nicht an ihre eigenen Vereinbarungen halten. Zum Beispiel, wenn es darum geht, die eigenen Außengrenzen zu kontrollieren. Das funktioniert ja auch nicht! Deswegen habe ich vorher das Frontex-Thema erwähnt. Es ist aber auch ein bisschen naiv zu sagen, das sei ein Versagen der Griechen

Die Griechen sind überfordert?

Die Griechen sind schlicht und ergreifend nicht in der Lage , dieses Problem allein zu schultern. Ich war am Montag in Brüssel und habe dort erfahren, dass es wieder neue Strecken gibt, die die Schlepper benutzen. Es geht da um kleinere Inseln, die außerhalb dieser Aufnahmezentren sind. Die Leute, die auf diesen Inseln stranden, können ja auch nicht mehr zurückgeschickt werden, denn das hieße, sie in den Tod zu schicken ...

Düstere Aussichten …

Nachdem das Gemeinschaftliche nicht funktioniert, haben die Staaten angefangen, sich quasi nach dem Motto …

hilf dir selbst, dann hilft dir die EU …

Ja, sie nehmen das Ruder selbst in die Hand.

Es gibt politische Beobachter, die glauben, dass durch den Vorstoß Österreichs ein Domino-Effekt eintritt, dass also andere Staaten die Grenzen ebenfalls schließen – was wiederum zu einer Art Abschreckung führen könnte …

Moment, so weit sind wir Gott sei Dank noch nicht! Jetzt sagen viele Staaten: Wir haben kein Vertrauen mehr in die Gemeinschaft, was einer Bankrotterklärung der EU gleichkommt. Diese Staaten sagen: Wir machen das selber. Wir wissen alle, dass das Zielland in den allermeisten Fällen Deutschland ist. Jetzt fängt Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu bremsen an, was dann wiederum heißt: Es gibt einen Rückstau an der deutsch-österreichischen Grenze. Dann kommen die Österreicher her und sagen: Na, na, das geht ja überhaupt net! Wir wollen keinen Rückstau, daher exportieren wir das Problem zur nächsten Grenze …

… zum Brenner?

Ja, dann sind wir jetzt am Brenner. Und jetzt sagen die Betroffenen in Südtirol, verständlicherweise: Moment! Ausgerechnet am Brenner, wo es ja keine Möglichkeit gibt, die Flüchtlinge auch nur wenige Tage unterzubringen, wie soll denn das gehen? Wir können die auch nicht haben! Daher muss es woanders passieren, irgendwo auf der Strecke zwischen Süditalien und dem Brenner. Das Problem ist: Jeder versucht sozusagen auf Kosten des Nachbarn seine Probleme zu lösen.

Sie haben also Verständnis für das „Grenzmanagement“ der österreichischen Bundesregierung?

Ich kann eines nachvollziehen: Wenn alle anderen Grenzen kontrolliert werden und nur die Brennergrenze nach Österreich offen bleibt, dann hätte dies einen riesigen Umlenkverkehr von Flüchtlingen zu Folge. Dies würde zu einer Katastrophe am Brenner führen.

An welches Szenario denken Sie?

Die Österreicher haben erklärt, sie wollen pro Tag nur mehr eine gewisse Zahl von Flüchtlingen abfertigen …

… die Rede ist von 80 Aufnahme und 3.200 Durchreisen.

Genau. Das heißt aber dann in der Konsequenz: Wenn es so kommt, wie ich vorher beschrieben habe, dann werden tausende Flüchtlinge am Brenner stehen.

Was tun dann?

Eben, was passiert dann? Ich denke, es ist relativ vernünftig, was die drei Landeshauptleute beschlossen haben, also dass sie sagen: Wir müssen jetzt versuchen, das Problem gemeinsam in den Griff zu bekommen. Vonseiten der österreichischen Bundesbehörden gibt es wenig Klarheit, die beschäftigen sich nur mit dem Thema Grenze oder Grenzzaun, wobei dies allein schon sehr missverständlich ist …

Warum?

Ja, es kann ja nicht allein darum gehen, einfach einen Grenzzaun aufzustellen. Es geht darum zu schauen, wie man tausende Flüchtlinge, wenn sie denn an den Brenner kommen, erstaufnahmemäßig behandeln kann. Das ist das Thema! Und ich warne: Wenn man da nur zuschaut, wie Tausende am Brenner oben stehen, dann ist dort oben alles zu.

Wie meinen Sie das?

Es ist alles zu! Die Flüchtlinge stehen dann auf der Autobahn, auf den Bahngeleisen. Dann schaue ich mir an, was am Brenner oben passiert.

Sie haben also Verständnis für die österreichischen Pläne, auch wenn der Brenner, wie es dieser Tage immer wieder hieß, eine symbolische Grenze ist?

Man muss an die Vernunft der zuständigen Behörden appellieren. Es geht folglich jetzt auch nicht darum, ideologische Debatten zu führen, sondern es geht darum, ein ganz konkretes und massives Problem, das sehr wahrscheinlich auf uns zukommt, einigermaßen in den Griff zu kriegen.

Den Diskussionen um die Brenner-Symbolik können Sie nichts abgewinnen?

Mit der Symbolik werden wir das Flüchtlingsproblem nicht lösen können, denn die Flüchtlinge haben andere Symbole. Wenn man schon die Symbole bemüht, da würde ich sagen: Es ist die Stunde da, wo die Euregio beweisen muss, ob sie den Begriff Zusammenarbeit, den sie ständig im Munde führt, auch imstande ist, in einer schwierigen Situation umzusetzen. Darum geht es!

Herr Fischler, ist das Flüchtlingsproblem lösbar?

Akut ist es nicht lösbar, und auch langfristig ist es nur lösbar – und jetzt kommen wir an den Beginn unseres Gesprächs zur –, wenn man Lösungen dort findet, wo das Flüchtlingsdrama entsteht. Solange es nicht zumindest einen Waffenstillstand in Syrien gibt, kann man vergessen, dass die Flüchtlingsströme aufhören. Solange es nicht dazu kommt – und da ist auch eine Mitschuld der Europäer gegeben –, dass man in den Flüchtlingscamps im Libanon, in Syrien, in Jordanien usw. den Flüchtlingen nicht jeden Tag etwas zum Essen gibt, wird sich nichts ändern. Als dieser Strom im Vorjahr begonnen hat, war das akute Problem, dass im Libanon keine Lebensmittel mehr vorhanden waren. Das sind doch Dinge, die sich organisieren ließen. Da kann man die Behörden der EU nicht freisprechen, da hat die Kommission eine Verantwortung, die wahrgenommen werden muss.

Wie viel wahltaktisches Kalkül steht hinter den letzten Entscheidungen der österreichischen Regierung? Und: Glauben Sie, dass europaweit die Rechten von der Flüchtlingskrise profitieren werden?

Letzteres ist keine Glaubensfrage, sondern das ist offenkundig! In ganz Europa nimmt der Rechtspopulismus enorm zu. Das Problem scheint mir zu sein: Die Rechtspopulisten haben Zulauf, weil keine klaren Positionen bezogen werden, weil ständig herumgeredet wird … Die einen reden vom Zaun, die anderen reden vom Grenzmanagement. Jeder redet von etwas anderem, da soll sich der Bürger auskennen!  

Was macht der Bürger?

Der Bürger hört natürlich am liebsten jenen zu, die ganz einfache und klare Botschaften absetzen. Insofern haben Sie Recht: Es ist eine Gefahr! Und diejenigen, die glauben, dass man mit dem Thema im österreichischen Präsidentschaftswahlkampf punkten kann, sind auf dem Holzweg. Wenn jemand punktet, dann ist es der Herr Strache bzw. der Herr Hofer. Und der größte Fehler, der immer wieder gemacht wird und der mich schon langsam aufregt ist, dass insbesondere die Konservativen die Tendenz haben, dass sie die Hälfte der Argumente der Rechtspopulisten übernehmen – und vor allem ihre Sprache. Man muss da viel mehr aufpassen, welche Wörter man verwendet …

An welche Begriffe denken Sie?

Es wird beispielsweise behauptet, dass der größere Teil Wirtschaftsflüchtlinge seien. Oder in Österreich hatten wir die Debatte über den Zaun, der gar kein Zaun ist. Solche Redeweisen sind kontraproduktiv, sind Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten.

Herr Fischler, Sie waren EU-Kommissar. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie jetzt sehen, wie ohnmächtig Europa ist?

Das ist das, was mich wirklich aufregt! Die Antwort auf diese Frage ist: Man muss dringendst aufhören, immer von der EU zu reden. Wir müssen wirklich die Dinge und die Leute beim Namen nennen. Wir müssen fragen: Wer entscheidet nicht rechtzeitig? Warum ist eine Entscheidung nicht gefallen? Ich lese in der Zeitung immer: Die EU habe nicht entscheiden. Richtigerweise müsste es heißen, die Regierungschefs haben sich wieder einmal nicht geeinigt. So lange man zulässt, dass jene, die die politische Verantwortung tragen – und das sind in erster Linie die Regierungschefs –, sich hinter der Abstraktheit des Wortes EU verstecken können, wird es keine Lösungen geben.

Interview: Artur Oberhofer

Zur Person

Franz Fischler, Jahrgang 1946, war von 1995 bis 2004 EU-Kommissar für Landwirtschaft und ab 1999 zusätzlich die der Fischerei in der Europäischen Union. Zu seinen größten Erfolgen zählt die Agenda 2000.

Seit März 2012 ist Franz Fischler Präsident des Forums Alpach. Von 1989 bis 1994 war der aus Absam stammende ÖVP-Politiker Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft in Österreich.

 

 

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