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„Blindwütiges Vorgehen“

Johann Paul Oberkofler war, als er mit einem Hammer auf seine Ehefrau Brigitta Steger einschlug, von einer „teilweisen Geistesstörung“ befallen. Das Gutachten von Henning Saß im Bozner Berufungsverfahren öffnet die Tür zu einer Haftreduzierung.

Von Thomas Vikoler

Der Aachner Psychologie-Professor Henning Saß ist nicht irgendwer. In Deutschland kennt man ihn als Gutachter der wegen Beihilfe zum mehrfachen Mord angeklagten NSU-Aktivistin Beate Zschäpe, gegen die derzeit in München der Prozess läuft. Saß hat Zschäpe mehrmals im Gefängnis besucht, sein Gutachten stieß auf nicht wenig Kritik.

Henning Saß war auch in einer Pflegeinrichtung im Veneto, um im Auftrag eines Gerichts einen „Patienten“ aus Südtirol zu untersuchen, der dort seit Jahresanfang im Hausarrest untergebracht ist.

Sein Name: Johann Paul Oberkofler, 55, der im Februar 2014 von Vorverhandlungsrichterin Silvia Monaco wegen Mordversuchs zu 16 Jahren Haft (plus zwei Jahren wegen Nötigung) verurteilt worden ist. Oberkofler wurde für schuldig befunden, seine Ehefrau Brigitta Steger, die weiter im unumkehrbaren Koma liegt, am Morgen des 27. November 2012 mit einem Mauerhammer und einer Ahle schwer verletzt zu haben. Seine Verteidiger Paolo Fava und Beniamino Migliucci haben Berufung gegen den Schuldspruch im verkürzten Verfahren eingelegt.

Das Oberlandesgericht akzeptierte den Antrag auf ein psychiatrisches Gerichtsgutachten, den Auftrag erhielt Zschäpe-Gutachter Saß. Am Dienstag hätte am Oberlandesgericht seine 80-seitige Expertise über Geisteszustand und Gefährlichkeit Oberkoflers verlesen werden sollen. Doch wegen der Nicht-Anwesenheit von Anwalt Paolo Fava wurde die Verhandlung auf den 15. September vertagt. Die Verteidigung hatte sich zuvor damit einverstanden erklärt, dass Gutachter Saß sein Gutachten nicht persönlich im Gerichtssaal vorträgt.

Aus gutem Grund: Das 80-seitige Dokument, das der TAGESZEITUNG vorliegt, ist durchaus im Sinne ihres Mandanten Johann Paul Oberkofler. Der Psychiater und Psychologe aus Aachen kommt nämlich zu ähnlichen Ergebnissen wie Verteidigungsgutachter Reinhard Haller. Der bekannte Vorarlberger Forensiker, als dessen Fan sich Berufungs-Anklägerin Ulrike Segna bei der Erstverhandlung outete, hatte bei Oberkofler eine „teilweise Geistesstörung“ während des Tatzeitraumes festgestellt. Eine Einschätzung, der Richterin Silvia Monaco in ihrem erstinstanzlichen Urteil keine Beachtung schenkte. Sie ging von einer vollen Zurechnungsfähigkeit aus und verlängerte den Haftaufenthalt Oberkoflers.

Henning Saß schreibt auf Seite 77 seines Gutachtens: „Nach psychopathologischer Einschätzung war bei Herrn O. die geistige Störung zum Tatzeit so stark ausgeprägt, dass sie von ihren Auswirkungen einer Krankheit gleichzusetzen ist. Allerdings hat dies nicht, wie es etwa bei einer völligen Geistesstörung wie einer floriden Psychose oder einer schweren Demenz der Fall ist, zu einer völligen Aufhebung der Einsichts- oder Willensfähigkeit geführt“.

Der Gutachter spricht von einer „teilweisen Geistesstörung, hier eines krankheitswertigen affektiven Ausnahmezustandes, welche die Fähigkeit zur einsichtsmäßigen Steuerung und damit die Willensfähigkeit erheblich vermindert hat“.

Also – wie bei Haller – keine genaue Krankheitsdiagnose, sondern eine Umschreibung eines „elementaren Gewaltexzesses“, wie es im Gutachten heißt. Die Tat sei weder angekündigt, noch vorbereitet oder geplant gewesen. Damit widerspricht er der Anklage im erstinstanzlichen Prozess, die auch den erschwerenden Umstand der Planung geltend gemacht hatte. Dass Oberkofler eigens in den Keller gegangen war, um Hammer und Ahle zu holen, hält Saß für „wenig plausibel“.

Der Gutachter spricht von einem „massiven Gewaltexzess mit einem Übermaß an Schädigungshandlungen. Ein solches blindwütig anmutende Vorgehen lässt einen sehr intensiven Vernichtungswillen erkennen, der in der Vorgeschichte des Herrn O. ohne Beispiel ist“.

Der vermeintliche Anlass: Die Scheidungsankündigungen seiner Ehefrau Brigitta Steger, mit der er laut Gutachten am Abend vor dem Mordversuch friedlich auf dem Sofa saß. Es sei zu keine Konfrontationen gekommen, Oberkofler habe sich aber in einer schlechten seelischen Verfassung befunden.

„Insgesamt liegt eine charakteristische Tatanlaufzeit vor, in der es zu einer massiven Zermürbung der seelischen Kräfte von Herrn O. gekommen ist. Dass dies nach außen nicht sehr deutlich in Erscheinung trat, liegt an der guten Fassade eines leistungsorientierten, im sozial und beruflich um Anerkennung bemühten, eher zwanghaft-ordentlichen Menschen“, schreibt Gutachter Saß.

Ähnlich wie Reinhard Haller kommt er zum Schluss, dass Oberkofler nicht gemeingefährlich ist. Der „Patient“ stehe weiterhin intensiv unter dem Eindruck der Ereignisse: „Seine Einstellung ist von Reue über das Leid, das er der Frau und den Angehörigen zugefügt hat, bestimmt“. Es sei, so der Gutachter, von einem „geringen Rückfallrisiko“ auszugehen, Oberkofler kein Mensch, der zu Gewaltdelinquenz neige.

Übernimmt das Oberlandesgericht die Einschätzungen Saßs – was sehr wahrscheinlich ist -, kommt es zu einer stattlichen Haftreduzierung wegen teilweiser Unzurechnungsfähigkeit. Herauskommen könnte eine Haftstrafe um die acht Jahre.

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