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Virglmenschen

Can Altay am Virgl: Erinnerung an die Tunnelmenschen

Can Altay am Virgl: Erinnerung an die Tunnelmenschen

Der türkische Künstler Can Altay ist auf Einladung der ar/ge kunst und Lungomare zwei Jahre lang Residency-Künstler in Bozen. In den Räumlichkeiten von Lungomare ist das erste Fragment seiner Arbeit zu sehen: Such Claims on Territory, (Studio Virgolo first fragments).

Von Heinrich Schwazer

In der Theorie des französischen Anthropologen Marc Augé wäre der Virgltunnel ein klassischer Nicht-Ort. Eine mono-funktional genutzte Fläche im suburbanen Raum ohne Geschichte und Identität, kommunikativ verwahrlost, ein Nadelöhr, das den Verkehr um die Landeshauptstadt herumleitet – sonst nichts.

Doch der Tunnel hat Geschichte. Errichtet wurde er im Zweiten Weltkrieg von Zwangsarbeiter aus dem Lager Bozen Gries, als der Krieg näher rückte und erste Bomben fielen, diente er als Bunker. Außerdem waren im Tunnel Maschinen der Industria Meccanica Italiana (IMI) untergebracht. Eine unterirdische Fabrik, die Kugellager für den Rüstungsbedarf herstellte. Nach dem Krieg diente der Tunnel Menschen als notdürftige Bleibe, die ihr Zuhause verloren hatten. Auch Rücksiedler aus Deutschland und Österreich fanden in dem Tunnel einen temporären Unterschlupf. Die Geschichte ist im Prinzip bekannt, im allgemeinen Bewusstsein jedoch ist sie nicht präsent. Der Virgl tauchte in den vergangenen Jahren immer wieder als Investitionsobjekt in den Schlagzeilen auf- zuletzt wollte der österreichische Investor Benko die Seilbahn wieder errichten. Neben dem Tunnel will die Stadt ein Nomadenlager errichten – bislang ohne Erfolg, weil die Anrainer sich querstellen.

Wen interessiert der Hügel über und der Tunnel unter Bozen noch? Den türkischen Künstler und Architekten Can Altay, der sich mit seinen Interventionen vor allem mit dem öffentlichen Raum auseinandersetzt. Seine Arbeiten wurden in Einzelausstellungen bei Arcade, London (2013), Casco, Utrecht (2011), The Showroom, London (2010) gezeigt, in Gruppenausstellungen war er am Walker Art Center (Minneapolis), VanAbbe Museum (Eindhoven), ZKM (Karlsruhe), Artist Space (New York) , sowie auf den Biennalen in Istanbul, Havana, Busan, Gwangiu, Marrakech und Taipei präsent. Die ar/ge kunst und die Galerie Lungomare haben den Professor an der Universität Istanbul für zwei Jahre lang als Residency-Künstler nach Bozen gebracht. Sein Bozner Projekt startet mit einer Ausstellung in der Galerie Lungomare, die erste Richtungen seiner Recherche anzeigt. Zunächst hat er die Galerie in einen Gelbraum verwandelt. Eine Folie deckt die Fenster der Galerie ab, das Licht dringt, bis auf einen Punkt, nur gefiltert ins Innere. Dort herrscht eine Arbeitssituation vor. An der Wand hängt eine planimetrische Darstellung von Bozen mit historischen Zeitungsausschnitten. Auf einem Tisch liegen weitere Zeitungsausschnitte den Virgl betreffend auf, daneben ein Stuhl mit Büchern zur Südtiroler Geschichte, beispielsweise den Katakombenschulen. Mit einem einfachen Plastikrohr hat er eine Art Teleskop gebaut, das auf eine historische Darstellung des noch halb verschlossenen Virgltunnels nach dem Krieg zeigt. Über den Raum verteilt sind Fundstücke, die er von seinen Wanderungen am Virgl mitgebracht hat. Eine Leiter, Plastikrohre, Holzstücke, Bretter und ein Stück Fels, das er mit Blumentöpfen kombiniert.

Ausstellung in der Galerie Lungomare: Gelbraum der Erinnerung

Ausstellung in der Galerie Lungomare: Gelbraum der Erinnerung

Was sind das für Hinweise, worauf weisen diese Hinweisstücke hin? Auf verstecktes Leben an einem der Verwahrlosung überlassenen Teil der Stadt? Soll man diese Fundstücke als Beweisstücke wahrnehmen, als Hinweisstücke des Fremden mitten unter uns? Welche Richtung Altays Recherchen auch nehmen werden, die Frage des Fremden steht als Frage des Fragens im Raum. In einem Thesenpapier schreibt er, dass er sich im Rahmen seines Bozner Aufenthaltes mit Fragen der radikalen Gastfreundschaft auseinandersetzen werde, wobei er die Rolle des Gastes und Gastgebers einnehmen will.

In Zeiten der Globalisierung, Mobilität und Migration rückt der Begriff der Gastlichkeit erneut ins Zentrum, aber wie lässt er sich neu denken? Für Hegel war Freundlichkeit Gastfreundlichkeit für alle Dinge und Ereignisse, die kommen und gehen. Kant dachte die Politik der universellen Gastfreundschaft im Hinblick auf den ewigen Frieden, Martin Heidegger sieht die Gastlichkeit als Sterblichkeit: Der Tod stimme das Denken gastlich, sagte der umstrittene Meisterdenker. Zuletzt hat der Philosoph Jacques Derrida die Gastlichkeit zum Thema seines Denkens gemacht: „Besteht die Gastfreundschaft darin, dem Ankömmling Fragen zu stellen? (…) Oder beginnt die Gastfreundschaft damit, dass man empfängt, ohne zu fragen?“ Es spricht einiges dafür, das Altay die Frage nach der radikalen Gastfreundschaft im Derrida´schen Sinne stellt, als Empfang der Anderen als ganz Anderen und eben nicht als politisch geregelte Gastfreundschaft. Als Sympathie für die „Exilierten, Deportierten, Vertriebenen, Entwurzelten“. Auf Bozen gewendet: Für die Virglmenschen.

Infos unter www.lungomare.org

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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